«Unerleslich»

Wenn Sie ein Buch nicht lesen können, liegt es meistens nicht an Ihnen sondern am Buch.

Der Ort:

Sie lesen im Bett? Dann kommen überhaupt nur Bücher im Format bis maximal 12 x 20 cm in Frage. Der Umfang sollte auch nicht über 200 Seiten sein, sonst fliegt Ihnen das Ding ständig auf die Nase.
Manesse Bücher sind da ganz gut geeignet.
Sie lesen im Zug? Morgens Zürich-Bern: Da geht defintiv nur ein flexibles, sich anpassendes weiches, biegsames Buch.
Sie lesen am Tisch sitzend: Prima, dann kommen auch die dicken Wälzer in Frage: Wie wäre es mit einem grossen Bildband, oder 800 Seiten Zauberberg.
Auf dem Sofa: Alle Bücher; da ginge auch die Zeitung.
Im Skilift: Da wären die Super Pappbücher für Leseanfänger geeignet: kurze Sätze, viele Bilder – ab und zu könnte man noch aufschauen, ob die Skifahrer vor einem gerade aus dem Lift fliegen.
Auch sind die dicken Kartonseiten hervorragend zum Blättern mit Handschuhen geeignet.

Die Zeit:

Morgens: Nur für die dynamischen Morgenfans eignen sich jetzt die richtig vollen schwarzen Seiten: Viel Text, luftig gesetzt in gutem Satzspiegel und sauber gedruckt. Für die Schlafmützen sind diese Bücher definitiv nicht in.
Mittags: Jetzt liegen eigentlich nur schnell 20 Seiten im Krimi drin, damit man weiterkommt in der Frage: «wer war der Mörder». Oder eine Kurzgeschichte oder drei Gedichte.
Abends: Jetzt ist alles möglich. Die grossen Atlanten - ich suche Leck auf der Landkarte -. Oder lese die schönsten Kochbücher statt zu kochen. Vorlesebücher sind jetzt auch gefragt, aber nicht von allen.
Die Nacht: Endlich kommt der Gärtner als Mörder dran. Oder der kanadische Reiseführer wird durchgeträumt.

Die Form:

Sie haben ein schönes Buch vor sich liegen, sitzen am Tisch und freuen sich. Sie machen das Buch auf und es knackt, kracht und bricht auseinander. Wir Büchermacher nennen das die knackigen Bücher.

Oder Sie bringen die Bücher erst gar nicht auf. Nein, die geliebte Folie haben Sie schon entfernt. Aber Sie ziehen links und rechts mit den Daumen und das Buch klappt immerwieder zu. Falscher Leim, falsche Laufrichtung des Papiers, Schlechter Satzspiegel im Verhältnis zum Buchformat. Sogenannte «Schnappbücher».

Oder Ihnen strahlt das Papier in seinem ganzen unnatürlichen Weiss entgegen. Mit allen optischen Aufhellern und aufgetragenen Weissstrichen, dass ihnen die Augen aus dem Kopf fallen. Da ist definitiv die Sonnenbrille angesagt. Oder sie legen das Ding, Buch genannt, zwei Wochen auf ihr Fensterbrett, weil gerade ein anderer Titel angesagt ist. Danach haben Sie ein Schnabelbuch. Die Decken heben sich oben und unten.

Wenn Sie dann aber das Buch endlich aufgeschlagen haben, können Sie die Schrift gar nicht lesen. Nicht etwa weil es lateinisch, chinesisch oder kyrillisch ist, sondern weil es so gestaltet ist, dass die Gestaltung den Text verunstaltet. Schrift zu klein, Durchschuss zu gross. Schrift richtig schön gross, aber kein Weissraum dazwischen. Zeilen zu lang, zu kurz, zu wenig Trennungen, zu viele et cetera. Als ob es dafür keine Formel , goldene Schnitte oder Regeln gäbe.

Ja, dann lesen Sie eben nicht, sondern schauen sich die Bilder an. Aber das ist auch so eine Sache. Da gibt es super gestylte Bildbände, da passen die Bilder irgendwie nicht so richtig ins Format. Also wurden sie ein bischen beschnitten: oben die Köpfe ziemlich, und unten die Füsse massiv. Das haben wir ja auf unseren Fotos auch schon immer so gemacht.
Und wie soll ich mir ein Bild von einem Person machen, wenn die Hälfte des Gesichtes abgeschnitten ist?

Aber es gibt sie doch, die Bücher, die nicht «unerleslich» sind:
Da mache ich ein Buch auf, lese und lese, merke gar nichts von Gestaltung sondern sauge nur den Text und den Autor auf und geniesse es.
Am Ende klappe ich das Buch zu. Habe die Bilder bewundert, die Bildlegenden dazu gefunden und verstanden, die Fussnoten am Fuss der Seite zum Text geordnet, die Kapitel alle gefunden, das Register benutzen können und den Text wunderbar leicht ohne Anstregung der Augen lesen können.
Eine leise Gestaltung. Die dem Text und dem Autor dient.
Aber dienen ist im Moment offenbar nicht so angesagt.